Mit dem Künstler und Schriftsteller Pedro Meier erleben wir in einer autofiktionalen Geschichte Weihnachten im Atelier von Orlow am Golf von Siam.
Auf einer Weltreise ist Orlow hier hängen geblieben. Er wohnt direkt am Meer. Seine Hütte ist aus Bambusstäben gefertigt und das Dach mit Wellblech und dürren Bananenblättern bedeckt. Orlow ist Kunstmaler. Das Meer vor seiner Malhütte trägt den Namen Golf von Siam. Dieser Golf breitet sich zwischen Thailand und Kambodscha aus. Bei gutem Wetter sieht man am Horizont eine Insel. Auf dieser Insel hatte über Jahrhunderte hin der König von Siam einen Sommerpalast. Der Palast ist abgebrannt. Noch heute kann man in seinen Ruinen herumstreifen. Orlow nennt seine Dschungel-Atelier-Behausung – «Palast der Winde».
Heute ist Heiligabend und morgen Weihnachten. Hier gibt's keine Tannenbäume. Hier wachsen Kokosnusspalmen, Mango- und Mangrovenbäume, Bananenbäume, Papayabäume, mehrere Arten von Bambus. Weit und breit aber keine Tannenbäume. Orlow verbringt die Festtage alleine. Weit gefehlt! Orlow lebt mit seinen Tieren. 6 Hunde, 2 weiss-schwarz gefleckte Hängebauchschweine, 22 Hühner, 16 Enten, 3 Kaninchen, 2 thailändische Eichhörnchen, plus10'000 Mücken. Fast schon ein Ritual: Immer in der Weihnachtsnacht malt Orlow ein Bild. Das ist für ihn Tradition. Orlow sortiert seine Pinsel. Orlow sortiert seine Farben. Er sucht sich eine Leinwand aus. Heute malt er, statt auf der Staffelei, auf dem Boden der Terrasse vor der Atelier-Hütte.
Orlow beginnt zu malen. Orlow malt einen Tannenbaum. Einen Tannenbaum aus der Erinnerung. Einen grünen Tannenbaum mit ausladenden Ästen. Genauso einen Tannenbaum wie der, der früher an der Westwand seines Geburtshauses am Jurasüdfuss in Europa gestanden hat. Der gemalte dickbauchige Tannenbaum füllt die ganze Leinwand. Lediglich über der Spitze des Tannenbaums ist noch ein wenig Platz. Hier malt Orlow drei Sterne mit gelben Schweifen in den Himmel.
Nun schlafen die Tiere. Auf den Rücken der schwarz-weiss gefleckten Hängebauchschweine liegen schlafend die Hunde und Enten. Und auf den Rücken der Hunde stehen schlafend die Hühner. Die Tiere träumen den Traum von den Bremer Stadtmusikanten.
Orlow entzündet 3 Kerzen. Er stellt die Kerzen in den Bananenbaum. Nun flackern die Kerzen durch die Tropennacht. Die Moskitos tanzen. Weit und breit kein Glockengeläut. Hier gibt es lediglich buddhistische Tempel und Pagoden. Von weit her hört Orlow Trommelklänge. In der Nacht vermischt sich der Singsang der buddhistischen Mönche mit dem Wellenschlag des Meeres. Orlow liegt in seinem Liegestuhl auf der Terrasse und schläft. Orlow träumt. Orlow halluziniert das Märchen von der »Schneekönigin«, das Märchen vom »Einsamen Tannenbaum«.
Eine Kokosnuss fällt durch die Stille der Nacht donnernd auf das Wellblechdach. Die Tiere schreien auf. Jaulen. Bellen. Gackern. – Zetermordio. Dann ist wieder Ruhe.
Pedro Meier
Künstler und Autor
19. Dezember 2021
Bild: Pedro Meier
Atelier-Impressionen Pedro Meier: www.pedro-meier-artist.ch