Alles wahrnehmen, ohne zu sehen
Reini Anliker lebt seit 25 Jahren in Bremgarten und fühlt sich hier richtig wohl. Er engagiert sich seit vielen Jahren im Kellertheater und ist auch sonst des Öfteren in den Gassen von Bremgarten anzutreffen. Meist trägt er eine Brille mit orangen Gläsern. Nur wer Reini Anliker gut kennt, weiss, dass der charmante und lebensfrohe Mann kaum mehr etwas sieht. So kann es dann schon einmal passieren, dass er Bekannte auf der Strasse nicht erkennt, respektive sie erst dann erkennt, wenn sie ihn direkt ansprechen. Sein Umfeld weiss aber inzwischen, dass sie Reini Anliker zuerst ansprechen müssen, damit er sie anhand der Stimme erkennt. «Ich sehe inzwischen fast nichts mehr, nehme mit meiner Brille nur noch Konturen wahr, doch eigentlich nehme ich meine Umgebung wahr, ohne sie zu sehen», erklärte der stark sehbeinträchtige Mann anlässlich des Januar-Kafi-Tratsch im Café Spatz von Barbara Kammermann, organisiert von freiamtplus. Bis auf den letzten Platz war das Café an diesem letzten Samstagmorgen im Januar besetzt. Und alle liessen sich in den Bann ziehen von Reini Anlikers Lebensgeschichte.
Ein grüner Osterhase
Dass mit seinem Sehvermögen etwas nicht stimmte, das merkte man bei Reini Anliker eigentlich schon recht früh. Im Kindergarten nahm er die Sachen immer ganz nahe zu sich, so dass die Lehrerin der Mutter empfahl, einen Augenarzt mit dem Buben aufzusuchen. Damals wurde ihm eine Kurzsichtigkeit diagnostiziert, die mit einer Brille korrigiert werden konnte. Nicht korrigieren konnte man seine Farbenblindheit. Er konnte Farben häufig nicht unterscheiden, so dass er in der Primarschule, als er aufgefordert wurde, einen Osterhasen mit Wasserfarben zu malen, zwar einen wunderbaren Osterhasen malte, den die Lehrerin sogar der ganzen Klasse zeigte, aber der Hase war nicht braun, sondern leider grün. Die Schule war allgemein nicht sein liebster Aufenthaltsort, doch er konnte sich mehr oder weniger durch die Schulzeit mogeln, ohne dass seine Beeinträchtigung grossartig auffiel. «Man lernt irgendwann sogar Farben auswendig», meinte Reini Anliker an diesem Morgen schmunzelnd.
Reini Anliker
Selbständigkeit erhalten und keine Privilegierung
Mit den Jahren nahm das Sehvermögen von Reini Anliker kontinuierlich ab. Doch lange gelang es ihm, seine Beeinträchtigung vor allen zu verbergen. Er, der nicht gerne zur Schule gegangen war, bildete sich kontinuierlich fort und machte neue Abschlüsse. Doch das Jahr 2000 sollte zu einem Schicksalsjahr werden. Damals war er in leitender Position als Einkäufer bei einer Firma. «Ich hatte einen Topjob, doch ich konnte nicht mehr lesen», gab er über die damalige Zeit Auskunft. Damit niemand dies bemerkte, kündigte er seinen Job und ging zum Arzt, der ihn direkt an die Universitätsklinik überwies. Doch niemand konnte ihm grossartig helfen. Er musste sich bei der IV anmelden und wurde von der IV an die Sehbehindertenschule in Basel geschickt. Er sollte sich erneut umschulen lassen. An der Schule in Basel realisierte Reini Anliker, dass Sehbeeinträchtigungen gar nicht so selten sind und es einige Menschen gab, die noch viel schlechter dran waren als er. Hier wurde ihm geholfen und er beschloss aus dem Sehvermögen, das er noch hatte, das Beste zu machen. Es war eine spezielle Trainerin, die ihm dabei half.
Sein Gehör wurde sensibler und er lernte auf die verschiedensten Dinge zu achten, so dass er heute sagen kann: «Ich nehme vieles wahr, ohne zu sehen.» Heute engagiert sich Reini Anliker als Botschafter der Regionalgruppe Nordwestschweiz im Schweizerischen Blindenbund. Im Rahmen dieses Engagements hat er Kurse mit vielen Buschauffeuren gemacht und diese darauf sensibilisiert, dass nicht alle Menschen in der Lage sind, die Schriften, wohin der Bus fährt zu lesen oder zu sehen, wann sie aussteigen müssen. Insgesamt stellt Reini Anliker fest, dass die Chauffeure in den letzten Jahren um einiges freundlicher geworden sind und sensibel reagieren. Trotzdem hielt er zum Abschluss des Kafi-Tratsch fest, dass er von seinen Mitmenschen eigentlich gar nicht viel erwarte. Er wolle auf keinen Fall privilegiert werden, sondern seine Selbständigkeit so lange wie möglich behalten.
Es war ein wirklich eindrucksvoller Einblick in ein ganz anderes Leben, das die Gäste des Kafi-Tratsch an diesem Morgen im Café-Spatz erhielten. Ein Einblick, der nachdenklich stimmte und gleichzeitig dafür sorgte, dass man quasi den Hut zog vor dieser Lebensgeschichte, diesem Mann, der sich niemals hatte unterkriegen lassen, der immer gekämpft hatte und so verstand man vielleicht auch, warum er aus «Eitelkeit», wie er es selbst nennt, den weissen Stock in den Gassen von Bremgarten nicht benutzt. Denn hier fühlt er sich wohl und sicher.
Bettina Leemann
26. Januar 2020
Bilder: Bettina Leemann
Der nächste Kafi-Tratsch im Café Spatz, Bremgarten, findet am Samstag, 29. Februar um 10 Uhr statt.