Eine Stimme in dieser Gesellschaft
Die im Jahre 1975 als Selbstorganisation gegründete Radgenossenschaft der Landstrasse versteht sich als Dachorganisation für die Schweizer Minderheit der «Fahrenden». Sie setzt sich für die Interessen und Bedürfnisse der Jenischen und Sinti in der Schweiz ein und ist europäisch bestens vernetzt. «Die Radgenossenschaft ist ein Stein in unserer Gesellschaft und wir verstehen uns als Stimme der Jenischen und Sinti», erklärte Willi Wottreng. Ein bedeutendes Ziel habe man im Jahr 2016 erreicht, als Bundesrat Alain Berset die Jenischen und Sinti als Nationale Minderheit mit ihrer eigenen nichtgebundenen Minderheitssprache anerkannt habe. Er selber habe 1993 als Journalist gemeinsam mit einem Kollegen eine Reportage über die Jenischen geschrieben und sei so mit den Jenischen ins Gespräch gekommen, erklärte Willi Wottreng. «Ich bin in meine heutige Arbeit einfach hineingerutscht.» So sei er neben der Arbeit als Journalist zum aktiven Helfer vor Ort geworden wie in der Unterstützung bei der Suche nach einer neuen Waschmaschine oder ein Gesuch zu schreiben.
Einfach eine andere Lebenserfahrung
Aufgrund ihrer Geschichte, die sie in unserer Gesellschaft erlebt haben, seien die Jenischen grundsätzlich misstrauisch und reagieren je nach Situation sehr schnell und heftig, so Willi Wottreng, fügte aber gleich an: «Es gibt aller ‹gattig› Leute auch bei den Jenischen, wie auch unter uns.» Sie hätten aber eine Art Grundwut im Bauch, so dass unter anderem Polizist:innen, Behördenmitglieder und Lehrer:innen ihnen nichts zu sagen haben, denn sie wüssten aus Erfahrung wie es ist. Diese Haltung sei leider bei den Jenischen in ihre Mentalität eingegangen und eine kollektive Verfolgung werde von einem Teil von ihnen gelebt. Für sie zähle nur die eigene Familie, nicht die Kleinfamilie, sondern die ganze Cousinenschaft, die alle den gleichen Namen tragen, erklärte er. So sage man anderen auch nichts über die eigene Familie und alle Mitglieder dieses Familienverbundes würden einander in alle Situationen decken. Willi Wottreng brachte es mit einem Lächeln so auf den Punkt: «Sie sind alle vercuslinet.»
Aus wirtschaftlichen Überlegungen würden immer noch rund 1000 Jenische in den Sommermonaten auf die Reise gehen. Es gebe sie immer noch die Jenischen mit ihren 36 Berufen und saubere Arbeit abliefern, aber auch jene, die nur einen Beruf kennen: «Ich bin ein armer Mensch und gehe zum Staat, weil ich Unterstützung brauche.» Der ganze Familienverbund arbeite mit, erklärte er. Die Kinder würden wohl zur Schule gehen, aber als 14-Jährige aus der Schule genommen und in die jenische Kultur mit Einbezug in die Arbeit eingeführt. Die Schulbildung sei daher ein grosser Mangel, eine Änderung brauche aber eine langwierige Überzeugungsarbeit. «Wir wollen, dass die Jenischen erkennen, dass sie mit schulischer Bildung weiterkommen.» Erwecke man aber jede Art von Zwang und Druck, würde nur Widerstand entstehen, hielt Willi Wottreng fest. Es gebe aber Eltern, die drei Jahre nicht auf die Reise gehen würden, damit die Kinder die Oberstufe absolvieren können, betonte er. «Es gibt Jenische, die keinen Wohnwagenblick haben, sondern darum bemüht sind, dass der Bildung Platz gegeben wird.»
Willi Wottreng
Sie haben auch Anspruch auf einen Platz
Willi Wottreng erinnerte daran, dass in früheren Zeiten die Jenischen einfach an einem Waldrand oder auf einer Wiese bei einem Bauer Halt machen konnten. Aufgrund der vielen Reglementierungen sei dies aber nicht mehr möglich und es mussten und müssen weiter neue Plätze aufgebaut werden. In der Schweiz bestehen rund vierzig Plätze, hielt er fest, und der Bund sei in der Entwicklung relativ vorbildlich, dagegen «blühe» der Kantönligeist in allen Variationen. Der Kanton Aargau stehe mit seinen sechs Stellplätzen gut da, während man zum Beispiel im Kanton Solothurn seit 40 Jahren für einen Platz kämpfe. Das Problem liege bei den Gemeindeexekutiven, da diese vielfach ein Gesuch präventiv ablehnen, weil sie fürchten in der Bevölkerung eine Misslaune hervorzurufen. Willi Wottreng ist aber überzeugt, dass bei offener Information und guter Organisation die Bevölkerung mit einem Projekt einverstanden wäre und das Zusammenleben im Alltag möglich ist.
Im Alltag sensibel sein
Angesprochen, ob er inzwischen ein Jenischer geworden sei, meinte Willi Wottreng, dass er sich ihnen zugehörig fühle und einige von ihnen würden ihn sogar als Sprecher akzeptieren. Er sei stolz darauf, dass er «Olmisch» genannt werde, denn dieser sei der «Alte» und wenn dieser etwas sage, dann habe dies seine Gültigkeit. Er wies aber deutlich darauf hin, dass es keinen jenischen Zoo gebe, den man besichtigen könne, aber die Möglichkeit sich zu begegnen, sich kennen zu lernen und gegenseitig zu akzeptieren, betonte Willi Wottreng. Wenn man im Alltag die Augen öffne, werde man entdecken, dass Jenische unter uns leben und im alltäglichen Geschehen integriert sind. «Man trifft in der eigenen Umgebung auf diese Menschen, man muss nur offen dafür sein.»
Richard Wurz
28. Februar 2024
Bilder: Patrick Honegger
Illustration: Beatrix Motsch
Weitere Informationen und Kontaktmöglichkeiten unter www. www.radgenossenschaft.ch
Der nächste Kafi-Tratsch findet am Samstag, 30. März um 10 Uhr im Foyer des Kellertheaters Bremgarten statt.