Homage an das Künstlerhaus Boswil
Das Künstlerhaus Boswil feiert vom Juli bis Dezember sein 70-jähriges Bestehen und einer interessanten musikalischen Veranstaltung folgt gleich die nächste. Mit den «Tavolata-Abenden» legten Stefanie C. Braun, Leitung Special Projects am Künstlerhaus Boswil, und Walter Küng, Autor und Regisseur, eine Atempause ein –und dies bei einem feinen Nachtessen aus der Künstlerhaus-Küche. Für einmal stand das Künstlerhaus Boswil als Werkstatt im Vordergrund und nicht der Ort der Musik. Die drei informativen und eindrücklichen Abende erinnerten an die Aussage des Schriftstellers Günter Grass (1927 bis 2015), die er anlässlich eines seiner Besuche im Künstlerhaus machte: «Boswil ist der Ort, das Neue zu versuchen, ohne vorschnell nach dem Gelingen zu fragen.»
Es war nicht besser, einfach anders
Die kulturelle, wirtschaftliche, soziale, gesellschaftliche und politische Lage hat sich in den vergangenen sieben Jahrzehnten immer wieder verändert und wurde geändert. Das Traditionelle und bereits Bekannte wurde gepflegt, Neues konnte entstehen und vieles ging verloren oder wurde vergessen gemacht. Die kulturelle Vielfalt fand aber immer wieder auf den kleineren und grösseren Inseln des Denkens und der Kulturpflege ihren Raum. Das Künstlerhaus Boswil ist seit seiner Gründung im Jahre 1953 eine dieser Inseln – in der Schweiz in seiner Wirkungsbreite und Gestaltungsmöglichkeiten (fast) ein Einzelkind. Es war in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens ein Ort für Lernende und Lehrende, Kunstschaffenden aus allen Bereichen des kulturellen Lebens und für Künstler:innen, die ein zu Hause brauchten – «Die Mischung zwischen sozialem Denken und Kunstpflege», hielt Flötist Aurèle Nicolet (1926 bis 2016) bei einem seiner Besuche in Boswil fest.
Ein Rückblick zum Geniessen
Die kreative Nutzung der Alten Kirche und des Foyer schuf eine wohltuende Stimmung mit Tiefgang – Musik, Geschichten und ein feines Nachtessen. Die Besucher:innen waren dazu eingeladen gut zuzuhören, zu geniessen und sich in Gespräche mit den Tischnachbar:innen verwickeln zu lassen. Stefanie C. Braun und Walter Küng führten mit viel Witz und Charme durch die Abende und schufen eine herrliche Atmosphäre.
Man konnte einen Moment in die Welt des Regisseur Kurt Früh (1915 bis 1979) in Wort und Bild versinken und es wurde einem bewusst, dass ein Zahnarzt die Ursache war, warum er in Boswil ein zu Hause fand. In einem Brief hielt er 1978 fest «wenn aus meiner Feder noch ein paar sinnvolle Arbeiten kommen, verdanke ich das der Stiftung und nicht zuletzt meinem Zahnarzt.» Die Musikerin und Komponistin Violetta Dinescu (*1953) liess einem ihren nicht einfachen Weg nach Boswil erleben und Pianist Pablo Felez interpretierte live eine Komposition von ihr. Max Nyffeler, Musikpublizist und alt Stiftungsrat Künstlerhaus Boswil, erinnerte unter anderem an die Zeit als in Boswil auch die Basis-Demokratie Raum und Platz hatte und dank Klaus Huber (1924 bis 2017) der erste internationale Komponistenwettwerb (bis 2005 waren es 16)) stattfand, an denen hart diskutiert und kritisiert wurde.
Im Gespräch waren drei Frauen, die das Künstlerhaus Boswil bereicherten, belebten und viele kreative Inputs gaben – Stefanie Darras (1919 bis 1991),Tanz; Lissy Sanden (1891 bis 1983), Gesang; und Ellen Widmann (1894 bis 1985), Schauspielerin und Sprechlehrerin. In Erinnerung an die Tänzerin Stefanie Darras eröffnete Nanine Linning, künstlerische Leitung Foundation Scapino Ballet, den Abend mit einer beeindruckenden Performance im Einklang mit der Akkordeonistin Manca Dornik, die auch den Abend mit musikalischen «Zwischentönen» umrahmte. Die Sängerin Susanne Oldani (1980) erinnerte sich an die wertvollen Stunden als Schülerin bei Lissy Sanden und bereicherte die Erinnerungen mit Liedern. Ein spezieller Moment war, als die ehemaligen Schüler:in von Ellen Widmann, Heidi Maria Glössner (1943), Hansruedi Twerenbold (*1939) und Walter Küng, das Schaffen von und mit Ellen Widmann sicht- und hörbar machten. Ellen Widmann war auch bekannt für ihre Sprechchöre und so bezog Walter Küng zum Abschluss des Abends alle Besucher:innen mit ins Geschehen ein und übte sich mit ihnen (mit Erfolg) als Sprechchor.
Der Abschlussabend dieser Trilogie erinnerte eindrücklich daran, dass auch der Jazz in seiner ganzen Breite Raum für Konzerte und Workshops hatte. Der Saxophonist John Tchicai (1936 bis 2012), hielt 1984 bei seinem zweiten Besuch in Boswil unter anderem fest: «Für einen freien Künstler in einer Welt, wo Kommerzialität und seelische Korruption die tägliche Botschaft ist, wirkt Boswil wie eine Oase, wo man sich schützen kann und von Menschen mit gleicher Haltung umgeben ist.» Co Streiff (1959), Saxophonistin und Flötistin, gab einen Einblick in ihr musikalisches Wirken und Begegnungen. Die Grande Dame des Schweizers Jazz konnte leider nicht anwesend sein, aber sie war da – die Jazzpianistin Irène Schweizer (1941). Sie prägte und beeinflusste die Jazzszene – und tut dies immer noch. In Boswil selbst nahm sie sich neben den Konzerten während drei Aufenthalten die Zeit und die Ruhe drei Mal Schallplatten aufzunehmen. Musikalisch und als Mensch im Mittelpunkt stand der Schlagzeuger Pierre Favre (*1937), der eigentlich Bauer werde wollte, aber nach wie vor das Schlagzeugspiel im Mittelpunkt seines Lebens stellt. Seinen Geschichten aus seinem Leben zu hören und die Gespräche am Tisch mit ihm waren spannend, aber letztlich blühte er auf, wenn er am Schlagzeug sass. So wurde die Jam Session zum Abschluss des Abends mit Pierre Favre und Chris Jaeger (Schlagzeug), Sascha Armbruster (Saxophon), Christian Kuntner (E-Bass), Giancarlo Nicolai (E-Gitarre), Gabriele Basilico (Kontrabass) und Alexander Ponet (Vibraphon) ein einmaliges musikalisches Erlebnis.
Die Türen wieder mehr öffnen
Bei aller Anerkennung des heutigen «Boswil» wünscht man sich (spätestens) nach diesen drei Tavolata-Abenden das Künstlerhaus Boswil wäre nicht zum Ort der (klassischen) Musik umgestaltet worden. Es wurde in den vergangenen rund 20 Jahren geprägt von den wertvollen Meisterkonzerten und dem Festival «Boswiler Sommer». Die Bandbreite des kulturellen Lebens und Schaffens kam aber nur auf «Nebenschauplätzen» zur Geltung – das Künstlerhaus Boswil wurde zu einem Veranstaltungsort für klassische Musik auf hohem Niveau. Im Leitbild 1994 wurde aber unter anderem festgehalten: «Boswil sucht nicht die Ereigniskultur, sondern den Weg zurück zum verantwortlichen Menschen, zum Künstler. Im Mittelpunkt steht dabei der Künstler in seiner Arbeits- und Wirkungsstätte (Künstlerhaus).»
Die Ereigniskultur hat längst ihren Raum bekommen und «Boswil» hat als Ort der Begegnungen, der Diskussionen, Gespräche und Werkstätte für Neues seine Bedeutung (etwas) verloren. Es ist unbestreitbar, dass es Mut brauchen würde, das Künstlerhaus Boswil in Richtung kulturellem Ort des Aufbruches zu bewegen, aber einfach das Künstlerhaus Boswil zu verwalten kann nicht genügen.
Richard Wurz
27. Oktober 2023
Bilder: Richard Wurz