Einfach mal neu und von ganz Vorne beginnen kann durchaus seinen Reiz haben.
Eine Auszeit kann jeder von uns gebrauchen, wenn man allerdings beschliesst dem Land, in dem man einen grossen Teil seines Lebens verbracht hat, den Rücken zu kehren und nochmals ganz von Vorne zu beginnen, bekommt das Ganze eine andere Dimension.
Tagtäglich können wir bei verschiedenen TV-Serien mitverfolgen, wie Menschen ihr Heimatland verlassen und ganz wo anders auf der Welt eine neue Existenz aufbauen. Wir amüsieren uns darüber und sind gar etwas schadenfroh, wenn wir quasi live mit dabei sind, wenn die Auswanderer im neuen Land scheitern und mit Schwierigkeiten kämpfen. Doch wie ist das wirklich? Wenn ein Familienmitglied beschliesst zu neuen Ufern aufzubrechen? Während sich der oder die Aufbrechende natürlich sehr freut, die Verlockung des Neuen spürt und es kaum erwarten kann, alles hinter sich zu lassen, machen sich wohl bei den Zurückgelassenen die einen oder anderen Bedenken breit. Man informiert sich etwas über das «Traumland» des anderen und macht sich Gedanken, was denn wohl passiert, wenn sich dieses Land nicht als so grossartig herausstellt, wie sich das der andere vorgestellt hat. Solche Fragen, vor allem bezüglich Gesundheit drängen sich vorwiegend bei älteren Personen auf. Wie ist die medizinische Versorgung? Ist Spitex oder Ähnliches in diesem Land schon erfunden? Was passiert, wenn die auswandernde Person ernsthaft krank wird, kann sie dann zurück in die Schweiz kommen? Kann man die schweizerische Krankenkasse behalten? Was ist mit Feiertagen, wird man diese zukünftig ohne die entsprechende Person verbringen müssen? Und sollte sie zu solchen Festen doch in die Schweiz zurückkommen, wo hat sie dann eine Bleibe? Fragen die eigentlich vor der eigentlichen Auswanderung nicht einfach unter den Tisch gekehrt werden sollten, sondern angesprochen und diskutiert werden müssten. Es sind aber auch Fragen, die durchaus unangenehm sind, denn nicht immer gefallen die Antworten und die Reaktionen der Angehörigen.
Spannend wird es dann auch, wenn ein ganzer Haushalt aufgelöst werden muss. Es ist ja dann nicht so, dass da nur eigene Erinnerungen und Andenken gelöscht werden, sondern auch diejenige der Angehörigen. Da wird eine ganze Lebensphase einfach getilgt. In Zukunft existiert sie nur noch auf Bildern oder an einzelnen Objekten, die man quasi erbt oder übernehmen muss, weil die auswandernde Person sie am neuen Ort nicht gebrauchen, sich aber vom einen oder anderen Stück nicht vollständig trennen kann. Sie hofft darauf, dass die Angehörigen das gute Stück in Ehren halten werden und sich im besten Fall über das Erbstück freuen. Es ist ein schmaler Grat zwischen Ballast abwerfen und anderen Menschen aus dem Umfeld dann doch Verantwortung aufs Auge zu drücken, die sie manchmal gar nicht bereit sind zu übernehmen.
So ist eine solche Auswanderung ein rechter Kraftakt, den man unter keinen Umständen unterschätzen sollte und der vor allem nicht nur den Auswanderer alleine betrifft, sondern auch das soziale Umfeld, das man hinter sich lässt und den Kontakt faktisch gesehen abbricht.
Bettina Leemann
28. Juli 2018
Bild: Richard Wurz