Kennen Sie das auch, dass Sie sich von der Bergwelt magisch angezogen fühlen?
Es ist Herbst und damit die Wanderzeit schlechthin angebrochen. War der Sommer schon traumhaft, aber für manche Tour zu heiss, ist der Herbst geradezu ideal könnte man meinen und mit dieser Idee scheine ich auch nicht alleine dazustehen. Ausnahmsweise steht in diesem Herbst nicht das warme Tessin auf dem Programm, wo ich mich in gewissen Teilen bestens auskenne, sondern das Bündnerland. Besser gesagt das Unterengadin. Im wohl ruhigsten Dorf der Schweiz, wie es selbst von sich Werbung macht. Ruhig ist das Dorf wahrlich. Liegt es doch hoch über der Kantonsstrasse auf einem Plateau und verzaubert seine BesucherInnen. Ausserdem ist hier tatsächlich noch Amtssprache Romanisch, genauer Vallader, und die Häuser hier sehen aus, als ob sie einem Bilderbuch von Alois Carigiet entsprungen sind. Idylle pur ‒ doch der Schein trügt.
Täglich kommen viele WanderInnen hier vorbei, denn der Engadiner-Höhenweg führt hier durch. Wem das nicht genug anstrengend ist, der kann den Muttler besteigen und auf alten Pfaden den Übergang nach Samnaun suchen. Nein, hier ist man wahrlich nicht allein, sondern immer mit Gleichgesinnten unterwegs. Postautokurse werden doppelt geführt, damit alle Reisenden einen Platz finden und manchmal staunt der Laie über die Fahrkünste der Chauffeure. Sicher überwinden sie Steigungen und engste Kurven, die man, selbst aus dem Unterland kommend, nicht unbedingt mit dem eigenen Auto fahren möchte. Der Nationalpark kann sich vor BesucherInnen kaum retten. Alle wollen Bär, Wolf, Hirsch und Bartgeier sehen und nehmen dabei nur wenig Rücksicht auf die fragile Natur. Natürlich wird nur auf offiziellen Wegen gewandert, aber die Menge ist trotzdem beträchtlich. Ja der Berg ruft und dort wo die eigene Kondition versagt, hat bestimmt irgendwann mal jemand eine Gondelbahn oder einen Sessellift gebaut, damit alle bequem den Gipfel erreichen und die einzigartige Natur und den weitreichenden Ausblick geniessen können. Und im Winter kann das Ganze auch noch zum Skifahren genutzt werden. Denn die Bergwelt kommt auch dann kaum zur Ruhe.
Der Ruf des Berges ist ungebrochen und immerwährend. Einsamkeit findet man hier erst Recht keine mehr ausser im Nationalpark und in Wildruhezonen, die nicht betreten werden dürfen. Vielleicht werden dann im Winter gewisse Postautokurse auch vierfach geführt. Doppelstöckige Seilbahnen gibt es immerhin schon. Doch das bekomme ich zum Glück nicht mehr mit, denn im Winter ruft mich der Berg nicht.
Bettina Leemann
8. Oktober 2018
Bilder: Bettina Leemann