Es gibt da ein berühmtes Zitat von Johann Wolfgang von Goethe: «Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.»
Manchmal frage ich mich, wo denn in den letzten Jahren, die Flügel geblieben sind, die man den Kindern mit auf den Lebensweg geben soll. Kann die heutige Jugend überhaupt noch fliegen, träumen und Unerreichbares überhaupt erreichen? Meine Erfahrung im Alltag verleiht mir immer wieder den Eindruck, dass die Flügel der Kinder meist gestutzt wurden. Zwar wird allgemein suggeriert, dass unsere Jugend freier, als je zuvor mit einer Vielzahl von Möglichkeiten für die Zukunft aufwächst. Beim genauen Hinsehen entpuppt sich die vermeintliche Freiheit aber als Fessel, welche dazu dient, die Kinder dort zu behalten wo sie hingehören, nämlich auf den Boden der Realität. So gehört es heutzutage zum allgemeinen Standard, dass sich Kinder in der digitalen Welt zurecht finden. Sei dies mit dem Smartphone, dem iPad oder dem Computer. Ganz selbstverständlich wird ausser dem Smartphone auch alles in der Schule zu Lernzwecken eingesetzt. Gleichzeitig sind die Kinder aber gerade über die technischen Gadgets immer unter Kontrolle. Die Eltern wissen dank der Möglichkeit des Trackings, wo sich ihre Kinder befinden.
In Klassenlagern nehmen die Kinder ganz selbstverständlich das Smartphone mit, denn die Eltern zu Hause müssen schliesslich wissen, was der Sprössling gerade so treibt. Es reicht nicht mehr aus, dass man eine Postkarte bekommt, oder im besten Fall ein Telefon, dass die Klasse gut angekommen ist. Heutzutage wird zu diesem Zweck extra eine Homepage eingerichtet und da kann man denn Tag für Tag verfolgen, was die Sprösslinge den ganzen Tag getrieben haben. Der digitalen Fotografie sei Dank. Verstehen sie mich jetzt nicht falsch, auch ich bin beruhigt, wenn ich weiss, dass es meiner Tochter im Klassenlager gut geht. Doch zu meiner Jugendzeit lief das mehr nach dem Motto, keine Nachrichten sind gute Nachrichten, sprich in einem Notfall, wenn etwas total schief läuft, dann würde man bestimmt angerufen. Also ist es zwar schön und nett, wenn ich als Mutter digital mit dabei bin im Klassenlager und auch mal ein aufmunterndes Wort schicken kann, aber ist es wirklich notwendig.
Nimmt man den Kindern nicht die Möglichkeit, sich selbst zu entfalten, sich in einer Situation, die ihnen nicht so behagt einfach durchzubeissen und durchzuhalten? Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich ziemlich stolz war, als ich wohlbehalten aus dem Klassenlager zurück kam und dem Heimweh getrotzt habe. So ging es im Übrigen auch meiner Tochter. Sie hat durchgehalten und ist in den vier Tagen gewachsen. Auf sich alleine gestellt, sich durchsetzen zu müssen, das sind eben die Flügel die man den Kindern mitgeben sollte. Ihnen Mut machen, aber gleichzeitig nicht schon eine Leistung verlangen, sondern auch zugestehen, dass etwas schief laufen kann. Es muss ja nicht gleich so sein wie bei Ikarus, der mit den Flügeln der Sonne zu nahe kommt und in den Tod stürzt.
Aber wir als Eltern sollten bei einem Absturz möglichst da sein und die Kinder auffangen und fit machen für den nächsten Flug.
Bettina Leemann
17. Juni 2019
Bild: zVg