Jedem seine Insel
Es verbraucht viel Substanz, um die Adventszeit in Ruhe zu nehmen und sich auf die Weihnachtsfeiertage zu freuen. Es kommen einem so Gedanken und Erlebnisse aus früheren Zeiten in den Sinn – nein, es war nicht besser, aber ein bisschen schon. Man erinnert sich an die alte Weisheit, wenn man am Anschlag stand oder einfach genug hatte. Sie kennen ihn den Ausspruch «Ab uf d'Insle» und vielleicht wünschten Sie es sich auch schon. So richtig habe ich das nie geschafft, aber als Stadtzürcher hatte ich die SAFFA-Insel bei der Landiwiese in Zürich. Wenn da nicht gerade irgendeine Aktivität stattfand, war es eine Oase der Ruhe mit Geschichte. Auf der Landiwiese wurden während des 2. Weltkrieges Kartoffeln angebaut und die SAFFA-Insel entstand anlässlich der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit, die 1958 auf der Landiwiese stattfand.
Auf dieser kleinen Insel fand ich meine inneren Frieden, wenn es so um mich herum zu laut zu und her ging und zu eng wurde – der Zürichsee beruhigte die Seele. Ansonsten nahm man am gesellschaftlichen, sozialen und politischen Leben teil, versuchte sich zu integrieren und mit Respekt den anderen Menschen, auch wenn sie nicht gleicher Meinung waren, zu begegnen. Wir damals sonst schon Un-Bürgerlichen horchten aber auf, als Friedrich Dürrenmatts Laudatio anlässlich der Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises an Václac Havel bekannt wurde. So verglich er in seiner Rede die Schweiz mit einem Gefängnis, dessen Bewohner zugleich Wärter und Gefangene seien.
Es sind inzwischen schon dreissig Jahre vergangen, seit Friedrich Dürrenmatt dies sagte, aber irgendwie ist es für mich so, als ob es erst gestern war. Der Hilferuf «Ab uf d'Insle» ist Geschichte, denn die Insel «Zu Hause bleiben» hat man uns zugewiesen und längst weiss jeder was der andere zu tun oder zu lassen hat. So sind wir keine sich solidarisch verhaltene Gesellschaft, in der jeder Mensch seinen Platz hat, sondern zu Wärtern und Gefangenen geworden.
Richard Wurz
13. Dezember 2020
Bild: zVg